Athena

Sie rannte, lief panisch um ihr Leben, während Lianen und andere Gewächse
in ihr Gesicht schlugen.
Es war pechschwarz im Dschungel, eine mondlose Nacht, so daß sie eigentlich nicht einmal die Hand vor Augen sehen durfte - aber dennoch sah sie alles! Sie konnte nicht nur die Stämme der gewaltigen Bäume erkennen, sie sah auch die huschenden, kleinen Bewegungen am Boden, die das Leben aller kleinen, nacht-aktiven Wesen anzeigte.
Voller Angst blickte sie sich um, ob ihr die Verfolger immer noch auf den Fersen waren, konnte sie aber nicht entdecken. Trotzdem lief sie weiter, immer nur weiter.
Plötzlich durchfuhr sie ein fürchterlicher Schmerz - ihr Kopf explodierte und sie sah bunte Farben, Farben, die sie noch nie gesehen hatte - Farben des Schmerzes. Ein seltsamer, kehliger Laut entwich ihr und sie blieb plötzlich stehen, sah sich in aller Ruhe um und wählte einen Baum aus. Sie erklomm ihn rasch und behende und wartete dann mit der Geduld eines Jägers.
Da - plötzlich war unter ihr eine Bewegung! Ohne zu zögern setzte sie zum Sprung an und schlug mit ihren Klauen auf das wehrlose Opfer ein. Erst als es sich nicht mehr rührte, ließ sie von der reglosen Gestalt zu ihren Füßen ab - und wich mit Entsetzen zurück!
Das Gesicht, das ihr mit blicklosen, gebrochenen Augen entgegenblickte – es war ihr eigenes!

Mit einem Schrei auf den Lippen erwachte sie. Das T-Shirt, das sie getragen hatte, war vollkommen verschwitzt und seltsamerweise zerrissen; blutige Kratzer und Schrammen befanden sich überall auf ihrer Haut. Zitternd ging sie in die Küche, um ersteinmal ein Glas Wasser zu trinken und bemerkte nicht, daß sie dabei schlammige Fußspuren auf dem Boden hinterließ.
Athena war seit ca. zwei Monaten wieder zu Hause in ihrer kleinen Wohnung in Santa Barbara, als plötzlich diese Träume anfingen - Träume, an die sie sich von mal zu mal besser erinnern konnte.
Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte mußte sie feststellen, daß sie Schlamm an den Füßen hatte. Fassungslos betrachtete sie die dunklen, an den Rändern bereits trocken werdenden Spuren auf ihrem Teppich - es war mitten im Sommer und es hatte hier in der Gegend von Los Angeles bereits seit Wochen nicht mehr geregnet.
Gewaltsam schob sie diesen seltsamen Vorfall von sich, denn sie hatte wichtigeres zu tun, als ausgerechnet jetzt den Verstand zu verlieren - sie wollte mit ihrer Doktorarbeit über die indianischen Völker des Amazonasgebietes fertig werden.
Also machte sie sich an die Arbeit, und wie immer gelang es ihr, dabei alle störenden Gedanken von sich zu schieben.

Knapp eine Woche später - sie hatte zwar die ganze Zeit über schlecht geträumt, sich aber an nichts mehr erinnern können - erwachte sie schreiend; wieder war sie am Amazonas gewesen, dieses mal in dem Dorf, in dem sie unter der Bevölkerung gute Freunde gefunden hatte.
Ihre Freunde waren herbeigeeilt, um sie zu begrüßen, waren dann aber plötzlich panisch vor ihr zurückgewichen und voller Entsetzen mußte sie feststellen, daß sich ihre Hände mit Fell überzogen und Klauen die zarte Haut ihrer Finger durchstießen.
Furchtbare Schmerzen drohten ihren Kopf zu zersprengen, Schmerzen, die ihr armes, wimmerndes, verstörtes Ich in die Dunkelheit trieben, die gnädig ihre zarten, spinnwebenhaften Hände über ihren Verstand deckte; dennoch war sie noch wach genug, um alles ganz genau mitzuerleben.
Mit einem unmenschlichen Schrei stürzte sie sich auf die Menschen, wich geschickt und blitzschnell den zustechenden Speeren aus und tötete mehrere von ihnen mit schrecklichen Prankenhieben, bevor sie sich über einen hermachte und diesen teilweise auffraß.
Entsetzen schüttelte sie im nachhinein, ein schrecklicher Geschmack schnürte ihr die Kehle zu und mit zitternden Fingern strich sie sich eine Strähne ihres vom unruhigen Schlaf zerzausten und feuchten Haares aus dem Gesicht, als sie sich der klebrigen Flüssigkeit überall an ihrem Körper bewußt wurde - sie war über und über blutbesudelt!
Sie stürzte ins Bad und übergab sich stöhnend. Als sie nur noch Galle würgte stieg sie mit zitternden Beinen in die Dusche und wusch sich das Blut vom Körper.
Das Wasser war kochendheiß, aber dennoch hatte sie nicht das Gefühl, sauber zu werden. Als schon längst kein heißes Wasser mehr kam, stieg sie schluchzend aus der Dusche und blieb plötzlich wie erstarrt stehen, als sie sah, was ihr da im Spiegel entgegenblickte.
Sie sah eine nackte, junge wunderschöne Frau mit übergroßen schwarzen Augen, die gequält aussahen und tief in den Höhlen lagen.
Diese junge Frau konnte einfach nicht ihr Spiegelbild darstellen, denn im Gegensatz zu ihr hatte sie zwei schneeweiße Strähnen im ansonsten rabenschwarzen Haar, daß weich ihre Schultern umfloß und bis auf die Hüften hinabreichte.
Aber es gab keinen Zweifel - sie hatte über Nacht weiße Haare bekommen - und das mit 21 Jahren!
Sie ließ sich zu Boden sinken und begann leise zu schluchzen.

Als sie sich wieder ein wenig von dem Schock erholt hatte, packte sie ein paar ihrer wichtigsten Sachen in einen Rucksack, schlüpfte in ihre Jeans, ein Shirt und in ihre Cowboystiefel, suchte mit fliegenden Fingern ihre ganze Barschaft zusammen und fuhr zum Flughafen.
Dort buchte sie den nächsten Flug nach Brasilien - sie wußte nur, daß sie
unbedingt zurück in den Urwald mußte, denn dort hatte alles seinen Anfang genommen ... .

Obwohl sich Athena redlich bemühte, nicht zu schlafen, forderte ihr erschöpfter Körper seinen Tribut. Diesesmal war der Traum sogar noch schlimmer - obwohl sie nicht gedacht hätte, daß das überhaupt noch möglich war.
Sie tötete wieder und genoß es auch noch! Und zusätzlich mußte sie feststellen, daß dieses Mal ihre Hände normal waren und daß sie - mit ihren normalen Zähnen! - noch dampfendes, blutiges, zuckendes Fleisch von zermalmten Knochen riß und es heißhungrig verschlang.

Würgend erwachte sie und blickte entsetzt auf ihre Hände, aber obwohl sie so zitterten, daß sie ein Glas Wasser innerhalb von fünf Sekunden komplett verschüttet hätte, waren sie frei von Blut.
Ihr Atem ging in kleinen, stoßweisen Schluchzern und die anderen Fluggäste sahen sie seltsam an, blickten dann, wenn ihr panischer Blick sie traf unbeteiligt zur Seite und nahmen ihre unterbrochenen Gespräche wieder auf.
Langsam beruhigte sie sich wieder - und war sich der bohrenden, neugierigen und teilweise auch verächtlichen Blicke in ihrem Rücken wohl bewußt. Stolz warf sie die langen Haare zurück und beschloß, daß Starren solange zu erwidern, bis diejenige Person den Blick abwandte – doch was dann geschah, hatte sie nicht erwartet.
Erstaunt beobachtete sie, wie eine Frau, deren verächtlicher Blick sie gerade gestreift hatte und die ihrem Nachbarn etwas von Drogenkonsum der heutigen Jugend zugeflüstert hatte angriffslustig ihren Blick erwiderte. Dann weiteten sich plötzlich die Pupillen der Mitvierzigerin, ihr Kinn klappte nach unten und begann zu zittern, die Hände flatterten wie kleine Vögelchen fahrig zu ihrem Hals und während ihr kleine, keuchende Laute der Angst entwichen (die Athena erregten) bildete sich dicker Schweiß auf ihrer Stirn.
Athena konnte die Angst der Frau förmlich riechen und ein leises, wohliges Knurren entfuhr ihrer Kehle.
Erschrocken fand sie in die Wirklichkeit zurück und mußte blinzeln; jetzt erst gelang es der älteren Frau mit einem Aufkeuchen, ihren Blick aus dem Athenas zu lösen. Sofort sprang sie schluchzend auf und lief in Richtung der Toilette. Athena war viel zu verwirrt, um sich zu bewegen. Was war denn nun schon wieder geschehen? Deutlich erinnerte sie sich daran, daß sie den Blick der Frau aufgefangen hatte und dann... . Ja, was dann?
Sie spürte wieder, wie sehr sie die Angst genossen hatte, die wie dunkle Schlieren von der Frau ausgegangen waren, daß sie sprungbereit gewesen war, um ihre Zähne in den Hals ihres Opfers ... Eben diese vergruben sich jetzt in ihrer Unterlippe, um den Schrei des Entsetzens zurückzudrängen, der mit Urgewalt aus ihr hervorzubrechen drohte.
Sie wandte den Kopf ab und sah für den Rest der Flugzeit starr aus dem Fenster, zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, um zu registrieren, daß die anderen Passagiere einen weiten Bogen um sie machten.

Die Landung hatte sie gar nicht mitbekommen; erst als eine Stewardess sie an der Schulter rüttelte nahm sie war, daß das Flugzeug leer war und daß der Lärm der Motoren verstummt war.
Sie war unendlich müde und fühlte sich schlapp und ausgelaugt. Nun war sie also hier – doch was sollte es bewirken? Daß ihre Träume mit dem Dschungel zu tun haben mußten, war ihr klar; aber ob es vernünftig war, hierher zurückzukehren? Nun, sie würde es herausfinden.
Athena hielt sich nicht lange mit der Suche nach einem Hotel auf, sie charterte sofort eine Maschine, die sie in die Nähe des Dorfes bringen sollte, in dem sie Monate mit ihren Forschungen verbracht hatte. Wie es dann aber weitergehen sollte, wußte sie allerdings nicht.
Athena blickte dem Flugzeug nach, das gerade wieder gestartet war. Mittlerweile war es stockfinster; die vertrauten Geräusche einer schwülen Dschungelnacht umgaben sie.
Die letzten Minuten waren die Hölle für sie gewesen Die Sonne war schon lange untergegangen, doch vor ca. 10 Minuten war der Mond aufgegangen – und sie hatte körperlich gespürt, wie das geschah. Jede Sekunde, die verann war quälend langsam verstrichen, mit jeder Sekunde hatten die Schmerzen in ihr zugenommen.
Zuerst hatte sie es gar nicht bemerkt, doch dann war aus dem zarten Ziehen in ihrem Unterleib ein Bohren und dann ein Stechen geworden, ihr Kopf schien sich abwechselnd zusammenzuziehen und dann wieder auszudehnen und im Takt mit diesen Schmerzen, die immer heftiger wurden krampfte sie die Hände zu Fäusten, bohrte die langen Fingernägel in das eigene Fleisch, bis Blut zu Boden tropfte, um von diesem gierig aufgesaugt zu werden.
Ihr Blick wanderte unstet über das mit Leben erfüllte Dunkel, indem sie ohne Schwierigkeiten alle Einzelheiten ausmachen konnte und blieb schließlich am Himmel hängen, denn dort befand sich riesengroß, hell und bläuliches Licht verbreitend der Vollmond, seine Macht durchpulste mit jedem Herzschlag ihren Körper, er rief sie, sie konnte es spüren ... . Mit einem gespenstischen Knacken brachen die ersten Knochen und formten sich neu, sie zersplitterten unter dem ungeheuren Druck, den der Mond aus sie ausübte und verformten sich zu der neuen Gestalt, die sie annehmen sollten.
Athenas Schrei hallte durch den nächtlichen Dschungel, nicht der Schrei eines Menschen, aber auch nicht der eines Tieres und mit einemmal verstummten alle Geräusche um sie herum, es gab nur noch sie, die Nacht und den Mond, den alles beherrschenden Mond ... .

Ihr Schrei war nicht ungehört geblieben, seit einigen Monden war er erwartet worden.
Der Schamane des Dorfes hatte davon geträumt – und er hatte sich darauf vorbereitet. Leise verließ er auf nackten Sohlen das Dorf, um den Jäger zu jagen, den Jäger, der nicht hier war, um Tiere zu erlegen, sondern um Menschen zu reißen.
Schneller als erwartet stand er ihr gegenüber, einem Wesen, das zwar menschliche Gestalt besaß, aber den Kopf eines Panthers auf den Schultern trug und auch dessen Klauen besaß – und dessen Intelligenz und die des Menschen in sich vereint hatte.
Takale blieb einfach vor ihr stehen und sank langsam auf die Knie, während seine Hände schwierige und komplexe Muster aus Mondlicht in die Luft zeichneten und seine Lippen unaufhörlich Worte formten.
Athena (oder das Wesen, daß sie nun war) schlich lauernd näher, seltsam beunruhigt, da der Mensch keinerlei Waffen bei sich zu tragen schien. Als sie gerade beschlossen hatte, daß er ungefährlich sei und ihn ansprang, um ihn zu zerfetzen und sein warmes Fleisch in sich hineinzuschlingen stellte sie fest, daß sie sich nicht mehr bewegen konnte.
Entsetzt blickte sie auf den Menschling, der jetzt mit starrem Gesicht vor ihr stand und sie aus traurigen, wissenden Augen anblickte. Er hob eine Hand, die blau leuchtete und zeichnete ihr mit einem Finger ein Mal auf das Gesicht, daß zu brennen schien, schlimmer noch als alles, was sie je gespürt hatte. Dann wurde es schwarz um sie und sie versank in den ewigen Fluten des Vergessens.
Takale atmete schwer, Schweiß lief ihm in Bahnen über das Gesicht. Ruhig blickte er auf das junge Pantherweibchen, das schlafend vor ihm auf dem Waldboden lag. Nichts ungewöhnliches war an ihr zu entdecken, außer den beiden schneeweißen Linien, die sich durch das ansonsten nachtschwarze Fell zogen.
Wenn die Jägerin erwachen würde, dann würde sie sich ein Jagdgebiet weit außerhalb der menschlichen Siedlungen suchen. Gerne hätte er der jungen Frau geholfen, die er kannte, doch dazu war er nicht mächtig genug.
So hatte er einfach das gefährliche in der Mischung zwischen Mensch und Tier vernichtet – den Menschen.
Traurig drehte er sich um und ging zurück in sein Dorf.

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